Mittwoch, 20. November 2013

Technologie



Technologie
Biegt man von der Hauptstraße von Tamale nach Bolgatanga in Walewale Richtung Nalerigu ab, taucht man endgültig in eine ganz andere Welt ein. Ab hier beginnt eine etwa zweistündige Fahrt über eine Straße, deren rötlicher Belag man sich vorstellen muss als eine Mischung aus Sand, Erde und Staub. Es ist anscheinend eines der Lieblingswahlversprechen, diese Straße zu asphaltieren. 

Hauptsächlich wegen dieser Straße ist Nalerigu von der Außenwelt isoliert, und daher ein herrlicher noch traditionell geprägter, einfacher und ländlicher Ort. Zu Beginn kam ich mir teilweise wie in einem riesigen, lebendigen Museum vor. Ganz langsam, oder „small, small“ wie man hier zu sagen pflegt, dringen Einflüsse von außen hierher durch.

In meiner Schule wird ein Bleistift-Spitzer für eine ganze erste Klasse - also siebzig Schüler - zum Spitzen verwendet. So versucht die Schule, langsam das Spitzen mit Rasierklingen, das hier traditionell üblich war, abzulösen und den Schülern das Schreiben mit schön rundgespitzten Bleistiften zu ermöglichen. Dass der eine Spitzer natürlich nach wenigen Wochen völlig am Ende ist weiß hier keiner, er spitzt trotzdem irgendwie, man muss nur kräftig genug draufdrücken. 

Entlang der Straße verläuft seit 1998 eine Stromleitung, die das Leben hier deutlich einfacher gemacht hat. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Stromversorgung hier auch nur annähernd mit der deutschen zu vergleichen ist. Schon der geringste Regen irgendwo zwischen Nalerigu und Tamale sorgt garantiert für Stromausfall. Wenn der Strom ausfällt,  lässt der Regen meistens nicht lange auf sich warten, so dass Stromausfall auch als Wettervorhersage verstanden wird. 

Bisher, so schätze ich, ist in etwas mehr als drei Monaten hier der Strom schon mehr als zweihundert Mal ausgefallen. Meistens nur für kurze Zeit, aber wer beispielsweise an einem Computer arbeitet, muss ständig speichern und immer wieder neu hochfahren. Strom wird unter anderem auch wegen den häufigen Stromausfällen nicht wie bei uns für fast jede Arbeit eingesetzt. Im Kapitel Regen habe ich schon erwähnt, dass Schreiner keine elektrischen Geräte verwenden - dieses Phänomen ist bei fast allen Handwerken zu beobachten. Die vielen Schneider führen ihre bunten Stoffe nur mit
in der Schneiderwerkstatt
einer Hand durch die Nähmaschinen, weil sie eine Hand zum Antreiben eines Rades einsetzen, was die ganze Maschine erst in
mein neues T-Shirt unterm Kohle-Bügeleisen
Bewegung versetzt. So kann zumindest ich als Anfänger nur ganz langsam nähen. Besonders Arbeiten, die traditionell von Frauen durchgeführt werden, sind wenig angesehen und werden daher in meinen Augen mit völlig veralteten Gerätschaften durchgeführt. Dass auf einer Seite hauptsächlich Männer im Internet surfen oder Motorrad fahren, während gleichzeitig Frauen ohne Ofen über dem offenen Feuer kochen, erscheint mir äußerst ungerecht.

Nalerigu besitzt im Gegensatz zu den benachbarten Ortschaften ein Wasserleitungsnetz. Offiziell jeden Morgen werden die Leitungen geöffnet und die Häuser mit Wasser versorgt. Einige Familien haben Wassertanks, die das Wasser automatisch speichern. Andere schöpfen es in Fässer, um so auch tagsüber Zugang zu Wasser zu bekommen, ohne dass man zum nächsten Bohrloch laufen muss. An manchen Tagen öffnet das Wasserwerk die Leitungen nicht, warum auch immer. Dann lassen sich die bessergestellten Leute Wasser zu ihrem Haus bringen: entweder klassisch mit einem Eselskarren, oder, was die Esel gerade ablöst, mit einem „Motoking“, das ist ein motorisiertes Fahrzeug, das immerhin zwei Fässer gleichzeitig transportieren kann. Esel und Motoking holen das Wasser von einem kleinen Stausee ab, in dem wohl das ganze Jahr Wasser ist. Wer nicht an das Leitungsnetz angeschlossen ist, muss zum nächsten Bohrloch laufen, das bis zu 200 Meter entfernt sein kann. Dort muss man von Hand das Wasser aus dem Erdreich in Eimer pumpen. Diese werden - wie alles andere auch - auf dem Kopf nach Hause getragen. 

Internet und auch Fernsehen sind Errungenschaften, die wohl bald reichlich Informationen und Aufklärung über viele Dinge nach Nalerigu bringen dürften, freilich ganz langsam, „small small“. Derzeit ist die berühmteste Fernsehfigur der „Prophet“ T.B. Joshuah. Er hat durch Wunderheilungen und seltsamste Dämonenaustreibungspraktiken ungeheure Popularität erlangt. Es ist in meinen Augen richtig, dass er eine der mächtigsten Personen Afrikas ist. Sogar in der Schule hängt seit neuestem ein großes Plakat, das ihn wütend gegen einen Dämonen kämpfend zeigt.

Ein weiterer entscheidender Unterschied zur europäischen Technologie stellt der Hausbau dar. Traditionell formen zehn bis fünfzehn kleine runde Lehmhütten einen sogenannten „Compound“. Das bedeutet, sie stehen kreisförmig um einen Innenhof herum und sind durch eine Mauer verbunden, was einer Familie, die jeweils einen „Compound“ besitzt, Sicherheit gewähren soll. Mit der Zeit wurde die typische kleine runde, mit
traditionelle Lehm-Hütten
Halmen gedeckte Hütte von einer in der Grundform rechteckigen mit Wellblechdach gedeckten abgelöst. Das heutige Stadtbild ist von einer Mischung aus beidem geprägt. Einige Familien haben noch ganz traditionell nur kleine runde mit Halmen gedeckte Hütten, andere etwas modernere Familien besitzen ein in der Grundform rechteckiges einstöckiges Lehmhaus und einige kleine runde Hütten. Die Allerfortschrittlichsten haben ein Haus aus vorher mit Sand und Zement angefertigten Betonsteinen oder sogar kräftigen Pfeilern, was, ganz modern, mehrstöckiges Bauen ermöglicht. Bislang ist das aber wirklich die absolute Ausnahme und die meisten Leute können von so etwas nur träumen. 

Baustellen sieht man hier übrigens sehr viele, nicht nur weil Nalerigu schnell wächst, sondern auch weil die aus gestampftem Boden aufgebauten Häuser der einfachen Bevölkerung ungefär alle zehn Jahre in sich zusammenfallen und dann neu aufgebaut werden müssen. Vor zwei Jahren, wurde mir erzählt, sei ein Schüler meiner Miracle-Brain-Schule dadurch ums Leben gekommen. Der ältere Teil der Schule, der heute noch für die Jüngeren Schüler verwendet wird, ist auch nur aus gestampftem Erdboden. Zum Glück waren gerade Ferien, als das letzte Mal eine Wand einfiel. Weil das Dach dieses Raumes noch steht, können dort nun Fahrräder und Motorräder der Schüler und Lehrer geparkt werden. Allerdings kommen die meisten zu Fuß.

Zum Schluss noch die wohl verblüffendste Entwicklung der letzten Jahre: sehr sehr viele Leute besitzen ein Handy, viele sogar zwei, damit sie gleichzeitig die hier verbreitetsten Telefonanbieter, Vodafone und MTN benutzen können. Handytelefonate sind auch deswegen verbreitet, weil sie unglaublich billig sind. Ich verwende mein Handy nicht gerade sparsam, und verbrauche trotzdem meistens deutlich weniger als einen Euro im Monat.