Schuhe für Samson
Anhand
einer kleinen ertragbar traurigen Geschichte, die das Leiden Afrikas
keineswegs in vollem Umfang beschreibt und mit anderen verglichen
eher harmlos erscheint, will ich die alltäglichen Probleme in Nalerigu
darstellen. Geschichten wie diese passieren hier leider dauernd.
Alles
beginnt damit, als Samson, ein kleiner Junge, ich schätze ungefähr acht Jahre
alt, eines Tages aus der Schule angehumpelt kommt. Er geht barfuß wie immer,
denn Samson besitzt, wie alle Kinder des Waisenhauses und auch sonst fast alle
Kinder, keine Schuhe. Manche haben Flip Flops. Der große Zeh
seines linken Fuß ist stark angeschwollen, aus Mangel an Verbandszeug hat er
sich notdürftig eine Plastiktüte darum gebunden. Samson ist hart im
Nehmen. Auf die Idee, dass er von sich aus zum Pastor oder zu einem Lehrer geht,
kommt er nicht. Er vertraut auf seine Selbstheilungskräfte.
Als er nach
ungefähr einem Kilometer bei uns angehumpelt kommt, wird er zunächst von mir
notdürftig versorgt. Bei jeder Berührung des Zehs fährt ihm der Schmerz durch
die Glieder. Mir gelingt es auch mangels Wasser nicht einmal richtig, die
etwa einen halben Zentimeter dicke Erdschicht von seinem Zeh zu entfernen. Ich
war mir fast sicher, dass der Zeh gebrochen ist. Nein, sagt der Pastor, das kann
nicht sein, Samson hat den Zeh schon vor Tagen angeschlagen. Wenn er
gebrochen wäre, hätte er das nicht ausgehalten. Da ist Flüssigkeit drin, meint
der Pastor, im Krankenhaus schneiden sie das auf, und dann wird alles gut. Zum
Glück sind alle Kinder krankenversichert.
Dann
bringt der Pastor Samson zu einem Verwandten. Samsons Verwandte
bringen ihn ins Krankenhaus. Am nächsten Tag kann er fast wieder normal laufen.
Es war über mehrere Tage ein großer Spreißel drin, berichtet der Pastor.
Samsons Leidenszeit scheint sich dem Ende zuzuneigen, geschwollen ist der Zeh
aber immer noch, und professionell scheint Samson auch im Krankenhaus nicht
behandelt worden zu sein. Nur ein dünner Verband ist um den Zeh gewickelt, vom
Sand hat er sich bereits rot gefärbt. Samson bräuchte, neben vielen anderen
Dingen, dringend Schuhe.
Einen Tag
später kommen Linda und Sandra, zwei Freiwillige aus Bayern, zu Besuch. Sie
haben in Deutschland gesammelte Kleider und auch einige Schuhe mitgebracht, und
versuchen die Sachen jetzt gerecht unter den Kindern aufzuteilen. Für jedes
wird ein kleiner Stapel angefertigt. Und tatsächlich, auf Samsons Stapel landet
ein gebrauchtes aber noch verwendbares Paar Schuhe. Samson freut sich
sehr! Nachdem er seine neuen Kleider angezogen hat, versucht er
hineinzuschlüpfen. Aber nein, die Schuhe sind zu klein, Linda und Sandra
haben Samsons Schuhgröße falsch eingeschätzt. Wir müssen zusehen,
wie er verzweifelt versucht seine dreckigen Füße hineinzuquetschen. Die
Schuhe passen nicht. Sie müssen an ein anderes Kind weitergegeben werden.
Samson weint bitterlich, auch mein Herz schmerzt, ich kann ihn in diesem Moment
so gut verstehen.
Kurz habe
ich überlegt, ob ich ihm auf dem Markt sicherlich sehr billig ein
Pärchen Schuhe kaufen soll, aber was wäre dann mit den anderen
zweiundzwanzig Kindern, und wenn ich allen dreiundzwanzig welche kaufe, was
würden dann die Klassenkameraden sagen? Nein, ich kann das Leiden Afrikas nicht
stoppen, schon gar nicht, wenn ich statt den Ursachen die Folgen behandele.
Auch lindern kann ich das Leiden nicht, nur trösten kann ich Samson ein
bisschen. Es nützt aber alles nichts, Samson hat noch immer keine
Schuhe.